"Der gläserne Mensch"


Gottfried Meinhold "Weltbesteigung. Eine Fünftagefahrt"

(Verlag Das Neue Berlin, 422 Seiten, 11,20 M)
Rezension von Karsten Kruschel (Volksstimme vom 12. September 1985)

Das seltsame Wort "hierzuwelte" ist eine Schöpfung Gottfried Meinholds, in dessen Roman "Weltbesteigung" die Einwohner einer Superstadt das Wort "hierzulande" nicht gut gebrauchen können. Sie leben nicht in einem Land, sondern in einen gewaltigen Bauwerk, einem Kasten aus einer Art Superstahl, Kilometer über Kilometer sich nach oben, unten und seitwärts ausdehnend. Dieses Cargéla, gelegen in der Eiswüste der Antarktis, könnte auch auf Mond, Mars oder sonstwo sein, es schirmt sich gegen die restliche Welt ab, wer einreisen will, wird schon als neuer Bewohner eingeplant, getestet, gelenkt.
Vier Männer geraten (wissentlich) in diese nicht ganz einfache Lage, als sie "eine Fünftagefahrt" buchen (so der Untertitel des Romans). Sie besichtigen Cargéla, und Cargélas Behörden besichtigen sie auch. Nur die Besten dürfen Bewohner dieser Welt werden, höchste geistige Qualitäten sind Bedingung. Auch der Führer der Exkursion will Bewohner des monströsen Gebildes werden, aus einem simplen Grund, den er vor sich selbst lang verborgen hält: Cargéla hat die Unterhaltung als sinnlich-prickelnden Zeitvertreib zu allerhöchster Vollendung gebracht. Meinhold hat die Schilderung dieser Vergnügungsindustrien mit zu den besten Stellen des Buches gemacht.
Ansonsten strengt sich der Autor sehr an, um seine Figuren (und es sind eigentlich nur diese fünf) psychologisch durchschaubar zu machen. Vom ersten Augenblick an knüpft Meinhold die Fäden der zwischenmenschlichen Beziehungen sehr fein, und die Analyse der Verhältnisse zwischen den Besuchern hört bis zu den letzten Worten des Romans nicht mehr auf. Das wird in dieser anhaltenden Intensität schnell ermüdend. Wenn dann die philosophischen Gespräche anfangen, hat der Leser eine Durststrecke zu überwinden, die um so trockener wird, als Meinhold sich selbst nicht immer zuzutrauen scheint, die weltwichtigen Auslassungen zu formulieren. Da verschwindet alles in der indirekten Rede, oder, noch einfacher, es wird nicht geliefert, was gesagt wird, sondern bloß die Wirkung des Gesagten geschildert.
Das scheinbare Utopia entpuppt sich im Gange des Romans als zwar perfekte, aber auch furchteinflößende Maschinerie. Die Besucher, hin- und hergerissen zwischen Faszination und Brechreiz, absolvieren eine Gratwanderung, die sich zum Ende hin dramatisch zuspitzt, als der Exkursionsführer erfährt, daß er "angenommen" ist, aber erst sein ganzes Ich umgekrempelt werden muß, um ihn tauglich zu machen. Er bricht zusammen, als sein Selbstwertgefühl verlorengegangen ist. Einer der Besucher bleibt, die anderen haben Bedenkzeit und werden wohl in der zurückgebliebenen, aber menschlichen Welt bleiben.
Gottfried Meinhold hat die Doppelgesichtigkeit technischen Fortschritts überzeugend gestaltet, und er tat dies, indem er ein Ensemble gestalteter Charaktere, von denen keiner völlig blaß blieb, mit Welt und Welterfahrungen zusammenbrachte, die viele alte Ansichten zerstörten, neu aufbauten, umkippten. Weniger tiefsinniges Grübeln hätte das Buch lesbarer gemacht. So werden wohl viele Leser von 100 Seiten Philosophie zuviel abgeschreckt werden (und von der Notwendigkeit, große Teile nur mit dem großen Fremdwörterbuch verstehen zu können).