Gottfried Meinhold: "Mit Rätseln leben. Das Ende einer Expedition"
(Hinstorff-Verlag, 311 Seiten, 9,50 M)
Rezension von Karsten Kruschel (LVZ vom 05./06. November 1988)
Gottfried Meinhold hat sein viertes Buch vorgelegt: "Mit Rätseln leben. Das Ende einer Expedition", wieder eine Gratwanderung zwischen Utopie und Science Fiction die sich nicht einordnen lassen will. In "Molt oder der Untergang der Meltkaker" (1982) erzählte Meinhold von den Schwierigkeiten des besagten Molt, mit den Spuren eines untergegangen Volkes zurecht zu kommen - eines Volkes, das ausgerottet wurde, weil es so friedlich war. "Weltbesteigung. Eine Fünftagefahrt" (1984) beschrieb die hochkomplizierte Denkfabrik Cargela, die sowohl Wunschvorstellung als auch Alptraum sein konnte, je nach standpunkt. Nun hat der Jenaer Sprachwissenschaftler seinen Molt sozusagen nach Cargela geschickt. Ein Sprachwissenschaftler namens Kymann wird überraschend nach Ustar Wollin gerufen, um dort bei der Entzifferung der untergegangen Sprache zu helfen. Jene Sprache spiegelt eine unglaubliche, eine wahrhaft utopische Gesellschaft wider, die Kymann fast ebenso beeindruckt wie die Gelehrtenrepublik, die sich am Ausgrabungsort gebildet hat. Wissenschaftler aller Sparten, Rassen und Nationen arbeiten dort gemeinsam und haben neue Formen der Zusammenarbeit gefunden. Kymann wird zum reisenden Botschafter dieser nahen Verwandten von Utopia und Nova Atlantis. Doch das Überleben dieser Gesellschaftsform in einer von Kriegen, Reaktorhavarien und Hunger gebeutelten Welt ist unmöglich: Nur auf dem Gebiet von Ustar Wollin wächst Ocantha, eine Pflanze von sagenhafter Ertragsfähigkeit. Man opfert die Utopie, um das Leben von Zehntausenden Hungernden zu retten. Trotzdem ist das Buch keine Aburteilung der Utopie. Meinhold besteht vielmehr auf der dringenden Notwendigkeit, die existierenden Gesellschaftsformen auf ihre Brauchbarkeit zu überprüfen und ihren Bedarf an VerÉnderung befragen. Kymann erkennt die Unmöglichkeit, gesellschaftliche Zustände zu verewigen - und das Bedürfnis nach Utopie versteht er am Ende als Bedürfnis nach Zukunft. Diese durchaus nicht einfache Handlung erzählt Gottfried Meinhold in eher bedächtigem Tempo und in einer Sprache, die offenbar so sorgfältig überlegt ist, daß sie zum langsamen Lesen zwingt. Und in Meinhold viertem Buch werden die literarischen Figuren nicht mehr von den wohlüberlegten Sätzen erschlagen, die sie sprechen müssen. Zwar bleiben einige bloße Sprachrohre, wie zum Beispiel und leider Kymanns Frau, aber viele sind mehr, sind Persönlichkeiten, die leiden und leben, und das ist es, was Meinholds jüngstes Buch zu einem zwar anstrengenden, fordernden, schwierigen, nachdenklichen, komplizierten Buch macht, aber eben doch zu einem Leseerlebnis,das nicht am Leser vorbeirauscht wie so manches hurtig mit Lasern, Raumschiffen und Robotern hantierendes Science-Fiction-Geschichtchen. Es handelt sich hier um SF für Erwachsene.